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Ein Ausflug in die "Geschichte des Fernunterrichts" | Rezension

Simon Eultgen

Als Fernlernender sitze ich doch nur alleine zuhause und versuche, mir alles mühsam selbst beizubringen - richtig? Falsch! Denn diese Zeiten sind lange vorbei. Mittlerweile bietet der Fernunterricht mehr als ein trockenes, isoliertes Selbststudium in den eigenen vier Wänden. Doch wie steinig der Weg dorthin war und welche großen Herausforderungen die Studienform meistern musste, zeichnet das neue Buch die "Geschichte des Fernunterrichts" nach.

Die Grundlage eines jeden Fernstudien- oder Fernlehrgangs ist der Studienbrief, in dem der Bildungsinteressierte alle wichtigen Inhalte findet und sie sich schrittweise selbstständig aneignet. Im Grunde liegt sogar der eigentliche Ursprung des Fernunterrichts in der Briefform. Denn bereits in der Antike dienten Briefwechsel dazu, den Adressaten über ein komplexes Thema auf einfache Art und Weise zu belehren. Dieser Ansicht sind jedenfalls Heinrich Dieckmann und Holger Zinn, die sich für ihr gemeinsames Sachbuch mit dem Titel "Geschichte des Fernunterrichts" auf Spurensuche begeben haben.

Wie sich das Fernlernen als beliebte Alternative zum Präsenzunterricht entwickelt und etabliert hat, ist noch weitgehend unerforscht. Die Verfasser führen das auf die schlechte, weil sehr dünne Quellenlage zurück. Viele Institute aus früheren Tagen existieren nicht mehr, erlitten große Verluste im Zweiten Weltkrieg oder bewahrten nur diejenigen Geschäftsunterlagen auf, die sie dem Gesetz nach archivieren mussten. Außerdem zeigen Sammler kaum Interesse an entsprechenden Zeitzeugnissen. Dennoch gelingt es Dieckmann und Zinn in ihrer knapp 300 Seiten starken Monographie, 150 Jahre Fernunterricht in Deutschland anschaulich sowie wissenschaftlich präzise darzustellen. Die intensive Quellenarbeit der beiden unterstreichen dabei auch die vielen integrierten Abbildungen, die beispielsweise Lernmaterialien, Kurszeugnisse oder Werbeplakate von Anbietern zeigen.

Fernunterricht in Deutschland: Aller Anfang ist schwer

Die insgesamt 11 Kapitel folgen weitestgehend den einzelnen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart und berücksichtigen dabei auch die großen politischen wie gesellschaftlichen Entwicklungen. So nimmt die Fernlehre hierzulande mit Gustav Langenscheidt Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang. Gemeinsam mit Charles Toussaint veröffentlichte er über seinen eigenen Verlag Briefe zum Selbstunterricht, die bereits Kontrollaufgaben mit Musterlösungen enthielten. Am Ende des Fernkurses stand es den Teilnehmern frei, eine Prüfungsaufgabe zu bearbeiten und zur Beurteilung an das Verlagshaus zu senden.

Daraufhin entstanden im Kaiserreich immer mehr private Fernschulen. Laut Dieckmann und Zinn konzentrierten sich diese vor allem auf die Fort- sowie Weiterbildung der breiten Bevölkerung, weil sie darin einen lohnenden Gewinn sahen. Doch im Zuge zweier Weltkriege und vor allem der restriktiven Politik des NS-Regimes verzeichneten viele entsprechende Unternehmen große Verluste, sodass ein nachhaltiger Aufschwung der Branche ausblieb. Daher begründete die DDR bereits wenige Jahre nach Kriegsende ein vollwertiges, umfassend staatlich kontrolliertes Fernstudium, das Interessenten an über 30 Hochschulen absolvieren konnten.

Mit Aufnahmeprüfungen, einem vorgegebenen Ablauf sowie alle zwei Wochen stattfindenden Besprechungen in Seminargruppen folgten die Fernstudiengänge einem festen Schema. Die beiden Autoren sehen darin das Bemühen der Staatsführung, möglichst viele Arbeiter berufsbegleitend auf akademischem Niveau studieren zu lassen, um die bestehenden Klassenschranken zu überwinden und die ehemals NS-treuen Eliten zu verdrängen.

Dagegen entwickelte sich der Fernunterricht in der BRD trotz der Wirtschaftswunderjahre der 50er beziehungsweise 60er Jahre eher schleppend. Primär diente er damals und bis in die 90er hinein der beruflichen Fortbildung sowie dem Nachholen von schulischen Abschlüssen. Im Vordergrund standen karriererelevante technische und kaufmännische Fernlehrgänge, mit denen die Teilnehmer ihre Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt steigern konnten. Trotzdem nutzten nur so wenige die Angebote des Fernstudienbereichs, dass die Institute ihre Teilnehmerzahlen häufig schönten.

Wie die beiden Autoren berichten, nimmt das Image des Fernschulwesens zu dieser Zeit beträchtlichen Schaden. In verschiedenen Artikeln des "Spiegels", der "FAZ" sowie des Verbrauchermagazins "DM" finden Dieckmann und Zinn reichhaltige Kritik. Sie richtet sich im Wesentlichen gegen die strengen Verträge, aufdringlichen Werbemaßnahmen und mangelnde Qualität der Lernunterlagen. Zumindest erweitert sich der Kreis der Anbieter durch kirchliche und gewerkschaftliche Bildungsinstitutionen. Darüber hinaus führten erste Institute Präsenzphasen als weitere Betreuungshilfe ein und ersetzten die bloßen Teilnahmebescheinigungen durch professionelle Zertifikate.

Der Staat greift ein: Die positive Wende des Fernunterrichts

Erst in den 1970er-Jahren griff die Politik regulierend in den Bildungssektor ein, um die bisher ausgebliebene Bildungswelle selbst anzukurbeln. Als bestes Beispiel für die veränderte Haltung des Staates führen Dieckmann und Zinn die systematische Einrichtung von Fach-, Fern- sowie Gesamthochschulen an. Mit der 1971 gegründeten Zentralstelle für Fernunterricht (ZFU) entstand eine Prüfstelle für die Zulassung aller Fernlehrangebote. Jeder positiv bewertete Fernkurs erhielt fortan ein Gütesiegel, was die Qualität und deren Transparenz für die Studieninteressierten enorm steigerte.

Außerdem sorgte das Fernunterrichtsschutzgesetz von 1977 dafür, Fernstudierende vor irreführenden Werbeversprechen und fragwürdigen Vertragskonditionen zu bewahren. Fehlten dem Bildungswilligen die finanziellen Mittel zur Weiterbildung, konnte er seitdem auch Unterstützung über das BAföG beziehen. Als kostengünstige Alternative zu den Privatunternehmen gründete sich 1974 die bis heute einzige Fernuniversität in Hagen.

Anhand von begutachteten Lehrbriefen, Broschüren sowie Zeugnissen stellen Dieckmann und Zinn außerdem fest, dass die Fernlernanbieter frühzeitig den wachsenden Bedarf nach EDV‑Kursen erkannten. Bis zur Jahrtausendwende trugen sie daher dem technischen Fortschritt Rechnung und bauten entsprechende Lehrangebote deutlich aus. Die Beliebtheit des Fernunterrichts stieg währenddessen soweit, dass sich schon Mitte der 80er Jahre an die 100.000 Menschen auf diese Weise fortbildeten. Aufgrund des steigenden Bedarfs entstanden in den 90ern nach und nach private Fernfachhochschulen, die das akademische Fernstudienangebot ausbauten. Bei den großen Anbietern der Branche konnten Interessenten nun aus über 200 Weiterbildungsangeboten auswählen. Den Bologna-Prozess und dessen Beschlüsse bewerten Dieckmann und Zinn als einen der letzten massiven Einschnitte. Denn die Umstellung auf Bachelor und Master Studiengänge sowie die Einteilung der Lerninhalte in Module veränderte auch den Fernstudienbereich grundlegend.

Und heute? Crossmedial statt eindimensionaler Lehrbrief!

Ob Tonträger, Telefon oder Computer - die beiden Autoren sind sich sicher, dass der Fernunterricht seit jeher auf technische Hilfsmittel setzte, um Wissen zu vermitteln. Heutzutage ist das Internet der dominierende Einflussfaktor. Die Anbieter stellen mittlerweile umfangreiche Online-Plattformen für stationäre und mobile Geräte zur Verfügung, die intensive Trainings-, Lern- sowie Kommunikationsmöglichkeiten beinhalten. Zudem erobern neue Misch- und Sonderformen wie Blended-Learning, Live-E-Learning oder Massiv Open Online Courses den Markt. Laut Dieckmann und Zinn zeigt diese derzeitige Entwicklung somit vor allem eines: Die Grenzen zwischen Präsenz- und Fernlehre verschwimmen zunehmend.

Die "Geschichte des Fernunterrichts" ist im W. Bertelsmann Verlag erschienen und im Buchhandel sowie auf Amazon erhältlich. Außerdem hat das Forum DistancE-Learning die Publikation mit dem "Sonderpreis der Jury 2018" ausgezeichnet, um die außergewöhnliche Leistung der beiden Verfasser zu würdigen.

Über die Autoren

Heinrich Dieckmann ist Geschäftsführer und Vizepräsident der APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft. Von 2006 bis 2014 war er Pädagogischer Direktor der Deutschen Weiterbildungsgesellschaft. Er gilt als der Experte für die deutsche Fernunterrichtslandschaft.

Prof. Dr. Holger Zinn lehrt an der DIPLOMA Fachhochschule Nordhessen. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für interdisziplinäre ökonomische Forschung (ZIF).

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